Vorweihnachtsblues
Geschrieben von
Wassilissa
,
23 Dezember 2007
·
264 Aufrufe
Jedes Jahr am 23. 12., nachdem ich den Baum geschmückt und dem Glühwein auf unserer Nachbarschaftsgrillfeier zugesprochen habe, bekomme ich einen "Sentimentalen". Ich höre alte Musik, würde am liebsten wieder rauchen und schaue aus meinem Dachfenster auf die verschneiten Felder an der Donau und den Fluss und denke an Freundschaften, die vergangen sind und für die es nie wieder adäquaten Ersatz gegeben hat, Lieben, die vorbei sind, und Zeiten, in denen ich anders war. Nicht, dass ich hadere, ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben, aber an Tagen wie heute keimen in mir andere Lebensentwürfe auf und ich hoffe, dass ich noch Zeit habe, sie zu verwirklichen.
Dann sehe ich den Fluß, der unter meinem Fenster dunkel vorbeizieht und denke: Nicht der Fluss fließt, sondern das Wasser. Nicht die Zeit vergeht, sondern wir.
Ach ja.
In diesem Sinne (oder in einem anderen) wünsche ich allen, die sich in meinen Blog verirren, von Herzen frohe Weihnachten.
-----------------------
Die Flucht nach Ägypten
Fern in einer der Wüsten des Morgenlandes wuchs vor vielen, vielen Jahren eine Palme, die
ungeheuer alt und ungeheuer hoch war. Alle, die durch die Wüste zogen, mussten stehen
bleiben und sie betrachten, denn sie war viel größer als andre Palmen, und man pflegte von ihr
zu sagen, dass sie sicherlich höher werden würde als Obelisken und Pyramiden.
Wie nun diese große Palme in ihrer Einsamkeit dastand und hinaus über die Wüste schaute,
sah sie eines Tages etwas, was sie dazu brachte, ihre gewaltige Blätterkrone vor Staunen auf
dem schmalen Stamme hin und her zu wiegen. Dort am Wüstenrande kamen zwei einsame
Menschen herangewandert. Sie waren noch in der Entfernung, in der Kamele so klein wie
Ameisen erscheinen. Aber es waren sicherlich zwei Menschen. Zwei, die Fremdlinge in der
Wüste waren, denn die Palme kannte das Wüstenvolk, ein Mann und ein Weib, die weder
Wegweiser noch Lasttiere hatten, weder Zelte noch Wassersäcke.
»Wahrlich«, sagte die Palme zu sich selbst, »diese beiden sind hergekommen, um zu
sterben.«
Die Palme warf rasche Blicke um sich.
»Es wundert mich«, fuhr sie fort, »dass die Löwen nicht schon zur Stelle sind, um diese Beute
zu erjagen. Aber ich sehe keinen einzigen in Bewegung. Auch keinen Räuber der Wüste sehe
ich. Aber sie kommen wohl noch.«
»Ihrer harret ein siebenfältiger Tod«, dachte die Palme weiten »Die Löwen werden sie
verschlingen, die Schlangen sie stechen, der Durst wird sie vertrocknen, der Sandsturm sie
begraben, die Räuber werden sie fällen, der Sonnenstich wird sie verbrennen, die Furcht sie
vernichten.«
Und sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Dieser Menschen Schicksal stimmte sie
wehmütig. Aber im ganzen Umkreis der Wüste, die unter der Palme ausgebreitet lag, fand sie
nichts, was sie nicht schon seit Tausenden von Jahren gekannt und betrachtet hätte. Nichts
konnte ihre Aufmerksamkeit fesseln. Sie musste wieder an die beiden Wanderer denken.
»Bei der Dürre und dem Sturme « sagte sie, des Lebens gefährlichste Feinde anrufend, »was
ist es, was dieses Weib auf dem Arme trägt? Ich glaube gar, diese Toren führen auch ein
kleines Kind mit sich.«
Die Palme, die weitsichtig war, wie es die Alten zu sein pflegen, sah wirklich richtig. Die Frau
trug auf dem Arme ein kleines Kind, das den Kopf an ihre Schulter gelehnt hatte und schlief.
»Das Kind ist nicht einmal hinlänglich bekleidet«, führ die Palme fort. »Ich sehe, dass die
Mutter ihren Rock aufgehoben und es damit eingehüllt hat. Sie hat es in großer Hast aus
seinem Bette gerissen und ist mit ihm fortgestürzt. Jetzt verstehe ich alles: Diese Menschen
sind Flüchtlinge -«
»Aber dennoch sind sie Toren«, fuhr die Palme fort. »Wenn nicht ein Engel sie beschützt,
hätten sie lieber die Feinde ihr Schlimmstes tun lassen sollen, statt sich hinaus in die Wüste zu
begeben. Ich kann mir denken, wie alles zugegangen ist. Der Mann stand bei der Arbeit, das
Kind schlief in der Wiege, die Frau war ausgegangen, um Wasser zu holen.
Als sie zwei Schritte vor die Tür gemacht hatte, sah sie die Feinde angestürmt kommen. Sie ist
zurückgestürzt, sie hat das Kind an sich gerissen, dem Manne zugerufen, er solle ihr folgen,
und ist aufgebrochen. Dann sind sie tagelang auf der Flucht gewesen, sie haben ganz gewiss
keinen Augenblick geruht. Ja, so ist alles zugegangen, aber ich sage dennoch, wenn nicht ein
Engel sie beschützt - -Sie sind so erschrocken, dass sie weder Müdigkeit noch
andere Leiden fühlen können, aber ich sehe, wie der Durst aus ihren Augen leuchtet. Ich
kenne doch wohl das Gesicht eines dürstenden Menschen.«
Und als die Palme an den Durst dachte, ging ein krampfhaftes Zucken durch ihren langen
Stamm, und die zahllosen Spitzen ihrer langen Blätter rollten sich zusammen, als würden sie
über ein Feuer gehalten.
»Wäre ich ein Mensch«, sagte sie, »ich würde mich nie in die Wüste hinauswagen. Der ist gar
mutig, der sich hierher wagt, ohne Wurzeln zu haben, die hinunter zu den niemals versiegenden
Wasseradern dringen. Hier kann es gefährlich sein, selbst für Palmen. Selbst für eine
solche Palme wie mich.
Wenn ich ihnen raten könnte, ich würde sie bitten umzukehren. Ihre Feinde können niemals so
grausam gegen sie sein wie die Wüste. Vielleicht glauben sie, dass es leicht sei, in der Wüste
zu leben. Aber ich weiß, dass es selbst mir zuweilen schwergefallen ist, am Leben zu bleiben.
Ich weiß noch, wie einmal in meiner Jugend ein Sturmwind einen ganzen Berg von Sand über
mich schüttete. Ich war nahe daran, zu ersticken. Wenn ich hätte sterben können, wäre dies
meine letzte Stunde gewesen.«
Die Palme fuhr fort, laut zu denken, wie alte Einsiedler zu tun pflegen.
»Ich höre ein wunderbar melodisches Rauschen durch meine Krone eilen«, sagte sie. »Die
Spitzen aller meiner Blätter müssen in Schwingungen beben. Ich weiß nicht, was mich beim
Anblick dieser armen Fremdlinge durchfährt. Aber dieses betrübte Weib ist so schön. Sie bringt
mir das Wunderbarste, das ich erlebt, wieder in Erinnerung.« Und während die Blätter fortfuhren,
sich in einer rauschenden Melodie zu regen, dachte die Palme daran, wie einmal, vor sehr
langer Zeit, zwei strahlende Menschen Gäste der Oase gewesen waren. Es war die Königin
von Saba, die hierher gekommen war, mit ihr der weise Salomo. Die schöne Königin wollte
wieder heimkehren in ihr Land, der König hatte sie ein Stück Weges geleitet, und nun wollten
sie sich trennen. - »Zur Erinnerung an diese Stunde«, sagte da die Königin, »pflanze ich einen
Dattelkern in die Erde, und ich will, dass daraus eine Palme werde, die wachsen und leben
soll, bis im Lande Juda ein König ersteht, der größer ist als Salomo.« Und als sie dieses
gesagt hatte, senkte sie den Kern in die Erde, und ihre Tränen netzten ihn.
»Woher mag es wohl kommen, dass ich just heute daran denke?« fragte sich die Palme.
»Sollte diese Frau so schön sein, dass sie mich an die herrlichste der Königinnen erinnert, an
sie, auf deren Wort ich erwachsen bin und gelebt habe bis zum heutigen Tage?
Ich höre meine Blätter immer stärker rauschen«, sagte die Palme, »und es klingt wehmütig wie
ein Totengesang. Es ist, als weissagten sie, dass jemand bald aus dem Leben scheiden
müsse. Es ist gut, zu wissen, dass es nicht mir gilt, da ich nicht sterben kann.«
Die Palme nahm an, dass das Todesrauschen an ihren Blättern den beiden einsamen Wanderern
gelten müsse. Sicherlich glaubten auch diese selbst, dass ihre letzte Stunde nahe. Man
sah es an dem Ausdruck ihrer Züge, als sie an einem der Kamelskelette vorüberwanderten, die
den Weg umgrenzten. Man sah es an den Blicken, die sie ein paar vorüberfliegenden Geiern
nachsandten. Es konnte ja nicht anders sein. Sie waren verloren.
Sie hatten die Palme und die Oase erblickt und eilten nun darauf zu, um Wasser zu finden.
Aber als sie endlich herankamen, sanken sie in Verzweiflung zusammen, denn die Quelle war
ausgetrocknet. Das ermattete Weib legte das Kind nieder und setzte sich weinend an den
Rand der Quelle. Der Mann warf sich neben ihr hin, er lag und hämmerte mit beiden Fäusten
auf die trockene Erde. Die Palme hörte, wie sie miteinander davon sprachen, dass sie sterben
müssten.
Sie hörte auch aus ihren Reden, dass der König Herodes alle Kindlein im Alter von zwei und
drei Jahren hatte töten lassen, aus Furcht, dass der große, erwartete König der Juden geboren
sein könnte.
»Es rauscht immer mächtiger in meinen Blättern«, dachte die Palme. »Diesen armen Flüchtlingen
schlägt bald ihr letztes Stündlein.«
Sie vernahm auch, dass die beiden die Wüste fürchteten. Der Mann sagte, es wäre besser
gewesen, zu bleiben und mit den Kriegsknechten zu kämpfen, statt zu fliehen. Sie hätten so
einen leichteren Tod gefunden.
»Gott wird uns beistehen«, sagte die Frau.
»Wir sind einsam unter Raubtieren und Schlangen«, sagte der Mann. »Wir haben nicht Speise
und Trank. Wie soll Gott uns beistehen können ?« Er zerriss seine Kleider in Verzweiflung und
drückte sein Gesicht auf den Boden. Er war hoffnungslos, wie ein Mann mit einer Todeswunde
im Herzen.
Die Frau saß aufrecht, die Hände über den Knien gefaltet. Doch die Blicke, die sie über die
Wüste warf, sprachen von einer Trostlosigkeit ohne Grenzen.
Die Palme hörte, wie das wehmütige Rauschen in ihren Blättern immer stärker wurde. Die Frau
musste es auch gehört haben, denn sie hob die Augen zur Baumkrone auf. Und zugleich erhob
sie unwillkürlich ihre Arme und Hände.
»O Datteln, Datteln!« rief sie.
Es lag so große Sehnsucht in der Stimme, dass die alte Palme wünschte, sie wäre nicht höher
als der Ginsterbusch, und ihre Datteln so leicht erreichbar wie die Hagebutten des Dornenstrauchs.
Sie wusste wohl, dass ihre Krone voll von Dattelbüschen hing, aber wie sollten wohl
Menschen zu so schwindelnder Höhe hinaufreichen?
Der Mann hatte schon gesehen, wie unerreichbar hoch die Datteln hingen. Er hob nicht einmal
den Kopf. Er bat nur die Frau, sich nicht nach dem Unmöglichen zu sehnen.
Aber das Kind, das für sich selbst umhergetrippelt war und mit Hälmchen und Gräsern gespielt
hatte, hatte den Ausruf der Mutter gehört.
Der Kleine konnte sich wohl nicht denken, dass seine Mutter nicht alles bekommen könnte,
was sie sich wünschte. Sowie man von Datteln sprach, begann er den Baum anzugucken. Er sann und
grübelte, wie er die Datteln herunterbekommen sollte. Seine Stirn legte sich beinahe in Falten
unter dem hellen Gelock. Endlich huschte ein Lächeln über sein Antlitz. Er hatte das Mittel
herausgefunden. Er ging auf die Palme zu und streichelte sie mit seiner kleinen Hand und
sagte mit einer süßen Kinderstimme:
»Palme, beuge dich! Palme, beuge dich!«
Aber, was war das nur? Was war das? Die Palmenblätter rauschten, als wäre ein Orkan durch
sie gefahren, und den langen Palmenstamm hinauf lief Schauer um Schauer. Und die Palme
fühlte, dass der Kleine Macht über sie hatte. Sie konnte ihm nicht widerstehen.
Und sie beugte sich mit ihrem hohen Stamme vor dem Kinde, wie Menschen sich vor Fürsten
beugen. In einem gewaltigen Bogen senkte sie sich zur Erde und kam endlich so tief hinunter,
dass die große Krone mit den bebenden Blättern über den Wüstensand fegte.
Das Kind schien weder erschrocken noch erstaunt zu sein, sondern mit einem Freudenrufe
kam es und pflückte Traube um Traube aus der alten Palme.
Als das Kind genug genommen hatte und der Baum noch immer auf der Erde lag, ging es
wieder heran und liebkoste ihn und sagte mit der holdesten Stimme:
»Palme, erhebe dich! Palme, erhebe dich!«
Und der große Baum erhob sich still und ehrfürchtig auf seinem biegsamen Stamm, indes die
Blätter gleich Harfen spielten.
»Jetzt weiß ich, für wen sie die Todesmelodie spielen«, sagte die alte Palme zu sich selbst, als
sie wieder aufrecht stand. »Nicht für einen von diesen Menschen.« Aber der Mann und das Weib lagen auf den
Knien und lobten Gott.
»Du hast unsre Angst gesehen und sie von uns genommen. Du bist der Starke, der den
Stamm der Palme beugt wie schwankendes Rohr. Vor welchem Feinde sollten wir erbeben,
wenn deine Stärke uns schützt?«
Als die nächste Karawane durch die Wüste zog, sahen die Reisenden, dass die Blätterkrone
der großen Palme verwelkt war.
»Wie kann das zugehen?« sagte ein Wanderer »Diese Palme sollte ja nicht sterben, bevor sie
einen König gesehen hätte, der größer wäre als Salomo«. »Vielleicht hat sie ihn gesehen«,
antwortete ein anderer von den Wüstenfahren.
Selma Lagerlöf
Dann sehe ich den Fluß, der unter meinem Fenster dunkel vorbeizieht und denke: Nicht der Fluss fließt, sondern das Wasser. Nicht die Zeit vergeht, sondern wir.
Ach ja.
In diesem Sinne (oder in einem anderen) wünsche ich allen, die sich in meinen Blog verirren, von Herzen frohe Weihnachten.
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Die Flucht nach Ägypten
Fern in einer der Wüsten des Morgenlandes wuchs vor vielen, vielen Jahren eine Palme, die
ungeheuer alt und ungeheuer hoch war. Alle, die durch die Wüste zogen, mussten stehen
bleiben und sie betrachten, denn sie war viel größer als andre Palmen, und man pflegte von ihr
zu sagen, dass sie sicherlich höher werden würde als Obelisken und Pyramiden.
Wie nun diese große Palme in ihrer Einsamkeit dastand und hinaus über die Wüste schaute,
sah sie eines Tages etwas, was sie dazu brachte, ihre gewaltige Blätterkrone vor Staunen auf
dem schmalen Stamme hin und her zu wiegen. Dort am Wüstenrande kamen zwei einsame
Menschen herangewandert. Sie waren noch in der Entfernung, in der Kamele so klein wie
Ameisen erscheinen. Aber es waren sicherlich zwei Menschen. Zwei, die Fremdlinge in der
Wüste waren, denn die Palme kannte das Wüstenvolk, ein Mann und ein Weib, die weder
Wegweiser noch Lasttiere hatten, weder Zelte noch Wassersäcke.
»Wahrlich«, sagte die Palme zu sich selbst, »diese beiden sind hergekommen, um zu
sterben.«
Die Palme warf rasche Blicke um sich.
»Es wundert mich«, fuhr sie fort, »dass die Löwen nicht schon zur Stelle sind, um diese Beute
zu erjagen. Aber ich sehe keinen einzigen in Bewegung. Auch keinen Räuber der Wüste sehe
ich. Aber sie kommen wohl noch.«
»Ihrer harret ein siebenfältiger Tod«, dachte die Palme weiten »Die Löwen werden sie
verschlingen, die Schlangen sie stechen, der Durst wird sie vertrocknen, der Sandsturm sie
begraben, die Räuber werden sie fällen, der Sonnenstich wird sie verbrennen, die Furcht sie
vernichten.«
Und sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Dieser Menschen Schicksal stimmte sie
wehmütig. Aber im ganzen Umkreis der Wüste, die unter der Palme ausgebreitet lag, fand sie
nichts, was sie nicht schon seit Tausenden von Jahren gekannt und betrachtet hätte. Nichts
konnte ihre Aufmerksamkeit fesseln. Sie musste wieder an die beiden Wanderer denken.
»Bei der Dürre und dem Sturme « sagte sie, des Lebens gefährlichste Feinde anrufend, »was
ist es, was dieses Weib auf dem Arme trägt? Ich glaube gar, diese Toren führen auch ein
kleines Kind mit sich.«
Die Palme, die weitsichtig war, wie es die Alten zu sein pflegen, sah wirklich richtig. Die Frau
trug auf dem Arme ein kleines Kind, das den Kopf an ihre Schulter gelehnt hatte und schlief.
»Das Kind ist nicht einmal hinlänglich bekleidet«, führ die Palme fort. »Ich sehe, dass die
Mutter ihren Rock aufgehoben und es damit eingehüllt hat. Sie hat es in großer Hast aus
seinem Bette gerissen und ist mit ihm fortgestürzt. Jetzt verstehe ich alles: Diese Menschen
sind Flüchtlinge -«
»Aber dennoch sind sie Toren«, fuhr die Palme fort. »Wenn nicht ein Engel sie beschützt,
hätten sie lieber die Feinde ihr Schlimmstes tun lassen sollen, statt sich hinaus in die Wüste zu
begeben. Ich kann mir denken, wie alles zugegangen ist. Der Mann stand bei der Arbeit, das
Kind schlief in der Wiege, die Frau war ausgegangen, um Wasser zu holen.
Als sie zwei Schritte vor die Tür gemacht hatte, sah sie die Feinde angestürmt kommen. Sie ist
zurückgestürzt, sie hat das Kind an sich gerissen, dem Manne zugerufen, er solle ihr folgen,
und ist aufgebrochen. Dann sind sie tagelang auf der Flucht gewesen, sie haben ganz gewiss
keinen Augenblick geruht. Ja, so ist alles zugegangen, aber ich sage dennoch, wenn nicht ein
Engel sie beschützt - -Sie sind so erschrocken, dass sie weder Müdigkeit noch
andere Leiden fühlen können, aber ich sehe, wie der Durst aus ihren Augen leuchtet. Ich
kenne doch wohl das Gesicht eines dürstenden Menschen.«
Und als die Palme an den Durst dachte, ging ein krampfhaftes Zucken durch ihren langen
Stamm, und die zahllosen Spitzen ihrer langen Blätter rollten sich zusammen, als würden sie
über ein Feuer gehalten.
»Wäre ich ein Mensch«, sagte sie, »ich würde mich nie in die Wüste hinauswagen. Der ist gar
mutig, der sich hierher wagt, ohne Wurzeln zu haben, die hinunter zu den niemals versiegenden
Wasseradern dringen. Hier kann es gefährlich sein, selbst für Palmen. Selbst für eine
solche Palme wie mich.
Wenn ich ihnen raten könnte, ich würde sie bitten umzukehren. Ihre Feinde können niemals so
grausam gegen sie sein wie die Wüste. Vielleicht glauben sie, dass es leicht sei, in der Wüste
zu leben. Aber ich weiß, dass es selbst mir zuweilen schwergefallen ist, am Leben zu bleiben.
Ich weiß noch, wie einmal in meiner Jugend ein Sturmwind einen ganzen Berg von Sand über
mich schüttete. Ich war nahe daran, zu ersticken. Wenn ich hätte sterben können, wäre dies
meine letzte Stunde gewesen.«
Die Palme fuhr fort, laut zu denken, wie alte Einsiedler zu tun pflegen.
»Ich höre ein wunderbar melodisches Rauschen durch meine Krone eilen«, sagte sie. »Die
Spitzen aller meiner Blätter müssen in Schwingungen beben. Ich weiß nicht, was mich beim
Anblick dieser armen Fremdlinge durchfährt. Aber dieses betrübte Weib ist so schön. Sie bringt
mir das Wunderbarste, das ich erlebt, wieder in Erinnerung.« Und während die Blätter fortfuhren,
sich in einer rauschenden Melodie zu regen, dachte die Palme daran, wie einmal, vor sehr
langer Zeit, zwei strahlende Menschen Gäste der Oase gewesen waren. Es war die Königin
von Saba, die hierher gekommen war, mit ihr der weise Salomo. Die schöne Königin wollte
wieder heimkehren in ihr Land, der König hatte sie ein Stück Weges geleitet, und nun wollten
sie sich trennen. - »Zur Erinnerung an diese Stunde«, sagte da die Königin, »pflanze ich einen
Dattelkern in die Erde, und ich will, dass daraus eine Palme werde, die wachsen und leben
soll, bis im Lande Juda ein König ersteht, der größer ist als Salomo.« Und als sie dieses
gesagt hatte, senkte sie den Kern in die Erde, und ihre Tränen netzten ihn.
»Woher mag es wohl kommen, dass ich just heute daran denke?« fragte sich die Palme.
»Sollte diese Frau so schön sein, dass sie mich an die herrlichste der Königinnen erinnert, an
sie, auf deren Wort ich erwachsen bin und gelebt habe bis zum heutigen Tage?
Ich höre meine Blätter immer stärker rauschen«, sagte die Palme, »und es klingt wehmütig wie
ein Totengesang. Es ist, als weissagten sie, dass jemand bald aus dem Leben scheiden
müsse. Es ist gut, zu wissen, dass es nicht mir gilt, da ich nicht sterben kann.«
Die Palme nahm an, dass das Todesrauschen an ihren Blättern den beiden einsamen Wanderern
gelten müsse. Sicherlich glaubten auch diese selbst, dass ihre letzte Stunde nahe. Man
sah es an dem Ausdruck ihrer Züge, als sie an einem der Kamelskelette vorüberwanderten, die
den Weg umgrenzten. Man sah es an den Blicken, die sie ein paar vorüberfliegenden Geiern
nachsandten. Es konnte ja nicht anders sein. Sie waren verloren.
Sie hatten die Palme und die Oase erblickt und eilten nun darauf zu, um Wasser zu finden.
Aber als sie endlich herankamen, sanken sie in Verzweiflung zusammen, denn die Quelle war
ausgetrocknet. Das ermattete Weib legte das Kind nieder und setzte sich weinend an den
Rand der Quelle. Der Mann warf sich neben ihr hin, er lag und hämmerte mit beiden Fäusten
auf die trockene Erde. Die Palme hörte, wie sie miteinander davon sprachen, dass sie sterben
müssten.
Sie hörte auch aus ihren Reden, dass der König Herodes alle Kindlein im Alter von zwei und
drei Jahren hatte töten lassen, aus Furcht, dass der große, erwartete König der Juden geboren
sein könnte.
»Es rauscht immer mächtiger in meinen Blättern«, dachte die Palme. »Diesen armen Flüchtlingen
schlägt bald ihr letztes Stündlein.«
Sie vernahm auch, dass die beiden die Wüste fürchteten. Der Mann sagte, es wäre besser
gewesen, zu bleiben und mit den Kriegsknechten zu kämpfen, statt zu fliehen. Sie hätten so
einen leichteren Tod gefunden.
»Gott wird uns beistehen«, sagte die Frau.
»Wir sind einsam unter Raubtieren und Schlangen«, sagte der Mann. »Wir haben nicht Speise
und Trank. Wie soll Gott uns beistehen können ?« Er zerriss seine Kleider in Verzweiflung und
drückte sein Gesicht auf den Boden. Er war hoffnungslos, wie ein Mann mit einer Todeswunde
im Herzen.
Die Frau saß aufrecht, die Hände über den Knien gefaltet. Doch die Blicke, die sie über die
Wüste warf, sprachen von einer Trostlosigkeit ohne Grenzen.
Die Palme hörte, wie das wehmütige Rauschen in ihren Blättern immer stärker wurde. Die Frau
musste es auch gehört haben, denn sie hob die Augen zur Baumkrone auf. Und zugleich erhob
sie unwillkürlich ihre Arme und Hände.
»O Datteln, Datteln!« rief sie.
Es lag so große Sehnsucht in der Stimme, dass die alte Palme wünschte, sie wäre nicht höher
als der Ginsterbusch, und ihre Datteln so leicht erreichbar wie die Hagebutten des Dornenstrauchs.
Sie wusste wohl, dass ihre Krone voll von Dattelbüschen hing, aber wie sollten wohl
Menschen zu so schwindelnder Höhe hinaufreichen?
Der Mann hatte schon gesehen, wie unerreichbar hoch die Datteln hingen. Er hob nicht einmal
den Kopf. Er bat nur die Frau, sich nicht nach dem Unmöglichen zu sehnen.
Aber das Kind, das für sich selbst umhergetrippelt war und mit Hälmchen und Gräsern gespielt
hatte, hatte den Ausruf der Mutter gehört.
Der Kleine konnte sich wohl nicht denken, dass seine Mutter nicht alles bekommen könnte,
was sie sich wünschte. Sowie man von Datteln sprach, begann er den Baum anzugucken. Er sann und
grübelte, wie er die Datteln herunterbekommen sollte. Seine Stirn legte sich beinahe in Falten
unter dem hellen Gelock. Endlich huschte ein Lächeln über sein Antlitz. Er hatte das Mittel
herausgefunden. Er ging auf die Palme zu und streichelte sie mit seiner kleinen Hand und
sagte mit einer süßen Kinderstimme:
»Palme, beuge dich! Palme, beuge dich!«
Aber, was war das nur? Was war das? Die Palmenblätter rauschten, als wäre ein Orkan durch
sie gefahren, und den langen Palmenstamm hinauf lief Schauer um Schauer. Und die Palme
fühlte, dass der Kleine Macht über sie hatte. Sie konnte ihm nicht widerstehen.
Und sie beugte sich mit ihrem hohen Stamme vor dem Kinde, wie Menschen sich vor Fürsten
beugen. In einem gewaltigen Bogen senkte sie sich zur Erde und kam endlich so tief hinunter,
dass die große Krone mit den bebenden Blättern über den Wüstensand fegte.
Das Kind schien weder erschrocken noch erstaunt zu sein, sondern mit einem Freudenrufe
kam es und pflückte Traube um Traube aus der alten Palme.
Als das Kind genug genommen hatte und der Baum noch immer auf der Erde lag, ging es
wieder heran und liebkoste ihn und sagte mit der holdesten Stimme:
»Palme, erhebe dich! Palme, erhebe dich!«
Und der große Baum erhob sich still und ehrfürchtig auf seinem biegsamen Stamm, indes die
Blätter gleich Harfen spielten.
»Jetzt weiß ich, für wen sie die Todesmelodie spielen«, sagte die alte Palme zu sich selbst, als
sie wieder aufrecht stand. »Nicht für einen von diesen Menschen.« Aber der Mann und das Weib lagen auf den
Knien und lobten Gott.
»Du hast unsre Angst gesehen und sie von uns genommen. Du bist der Starke, der den
Stamm der Palme beugt wie schwankendes Rohr. Vor welchem Feinde sollten wir erbeben,
wenn deine Stärke uns schützt?«
Als die nächste Karawane durch die Wüste zog, sahen die Reisenden, dass die Blätterkrone
der großen Palme verwelkt war.
»Wie kann das zugehen?« sagte ein Wanderer »Diese Palme sollte ja nicht sterben, bevor sie
einen König gesehen hätte, der größer wäre als Salomo«. »Vielleicht hat sie ihn gesehen«,
antwortete ein anderer von den Wüstenfahren.
Selma Lagerlöf








